Alpencross 2011 Tag 1

Etappe 1: Immenstadt – Oberstdorf – Steinscharte – Steeg – Kaisers
Länge: 58 km
Steigung: 1720 Hm


Diesmal waren es ein verregneter Juni und ein winterlicher Juli, die meinen Trainingsplänen den Garaus gemacht haben. Dank der ständigen Tiefdruckgebiete und Kaltfronten war ich gezwungen, meinen Alpencross in den August zu verlegen. Immerhin bildete ich mir zumindest ein, dieses Mal dank des regelmäßigen Ausdauertrainings und etlicher anspruchsvoller Biketouren im April und Mai körperlich viel besser auf den Alpencross vorbereitet zu sein, als in 2010. Allerdings würde mir die Route auch deutlich mehr abverlangen. Auch die übrigen Vorbereitungen waren schon seit Wochen abgeschlossen: Die Route bis ins letzte Detail ausgetüftelt, Gepäck und Ausrüstung optimiert und getestet, das Bike gewartet, Rückreise gebucht. Es war also wieder einmal soweit! Der Solo-Freeride-Alpencross 2011 konnte beginnen!

Durch Zufall hatte ich erfahren, dass die Bahn vom 30. Juli bis zum 29. Oktober die vom Hochwasser beschädigte Brücke über die Iller bei Fischen erneuerte. Statt also in Sonthofen auf das Schienenersatzverkehrsmittel umzusteigen, verließ ich den Zug bereits in Immenstadt und nahm den Radweg entlang der Iller bis Oberstdorf. Einer spontanen Eingebung folgend hatte ich außerdem kurzfristig beschlossen, bereits am Vorabend anzureisen, um schon in aller Herrgottsfrüh‘ die Große Steinscharte bezwingen zu können.

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Auf dem Iller-Radweg kommt man verkehrsfrei und völlig entspannt bis Oberstdorf. Oberstdorf ist einer der typischen Startpunkte für Alpenüberquerungen. Von Oberstdorf nach Riva gibt es eine handvoll klassischer Alpencross-Routen, die von den Mountainbikern jedes Jahr gefahren werden. Statt die Standard-Routen zu fahren, wollte ich mich jedoch auf stundenlangen Schiebe- und Tragestrecken über abgelegene Pässe schinden. Das war zumindest der Plan.
Vorbei an der Talstation der Nebelhornbahn geht es auf einem asphaltierten Sträßchen ins Stillachtal hinein. Hier hat man einen herrlichen Blick auf die Gipfel der Mädelegabel und des Wilden Mannes. Bald wird die Straße immer steiler und ab Faistenoy ist sie für den normalen Verkehr gesperrt.

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Inzwischen wurden die Schatten schon lang und die tief stehende Abendsonne erreichte längst den Weg nicht mehr, als ich in der Nähe der Breitengernalpe im Rappenalpental mein Nachtlager aufschlug. Es war schon den ganzen Tag mit 15°C recht kühl gewesen, aber mit untergehender Sonne fielen die Temperaturen schnell auf ein unangenehmes Niveau. Deshalb zog ich alles an was ich an Kleidung dabei hatte, bevor ich mich in meinen Schlafsack verkroch.

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In der Nacht hatte es nur knapp über Null Grad gehabt, und trotz meiner vielen Kleidung habe ich gefroren wie ein Schneider. Entsprechend unruhig war mein Schlaf gewesen und ich bin schon sehr früh aufgestanden, um mich beim bevorstehenden Aufstieg wieder aufzuwärmen.

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Die Enzianhütte rund 600 Hm über mir war mein nächstes Ziel. Die Aufwärmung war eine Sache von fünf Minuten. In der Morgendämmerung fuhr ich das erste steile Wegstück hoch und hielt ein paarmal an, um die in der Morgensonne blutrot glühenden Bergspitzen zu fotografieren. Kurz vor der Petersalpe kam der Abzweig zur Enzianhütte. Von hier an wird der Weg schmal, und kontinuierlich steiler, felsiger und beschwerlicher. Der Pfad war von beiden Seiten so vom Gestrüpp eingewachsen, dass man mit dem Bike auf den Schultern nur mühsam durchkam. Das Schieben konnte man hier sowieso vergessen.

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Der Aufstieg war beschwerlich und kostete eine Menge Kraft und Energie. Erst kurz vor der Enzianhütte lichtete sich der starke Bewuchs des Berghanges und ich hatte einen herrlichen Fernblick in das im Dämmerlicht liegende Allgäu und die allgäuer Hochalpen. Wenn ich die Berge im Sonnenaufgang sehe, wird mir jedes Mal wieder bewusst, warum sich der frühe Aufstieg lohnt. Dann tauchte die Enzianhütte vor mir auf, in der es laut der Schilder weiter unten nicht nur eine reichhaltige Speisekarte, sondern auch Duschen, Sauna und Whirlpool geben sollte. Kaum zu glauben, was der typische Bergwanderer heute alles für sein Wohlbefinden zu brauchen scheint… Als ich mich dann vor der Hütte in der Morgensonne niederließ und eine Buttermilch bestellte, hörte ich durch die gekippten Fenster der Alm die verwunderten Ausrufe der beim Frühstück sitzenden Wandersleute: „Schaut mal, da ist einer mit dem Fahrrad!“ Kommt hier wohl aus nachvollziehbaren Gründen selten vor.

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Von der Enzianhütte aus zieht sich ein mäßig steiler Pfad am Hang entlang, bevor es wieder hart nach oben geht. Bis zur Enzianhütte hatte ich das Bike zwei Stunden lang getragen. Zwei weitere Stunden später erreichte ich, teils schiebend, größtenteils tragend, die Rappenseehütte. (Diese hatte ja im Jahr 2009 traurige Berühmtheit erlangt, als rund 200 Hüttengäste an Durchfall erkrankten, just in der Zeit, als die UV-Wasserentkeimungsanlage der Hütte ausgefallen war. Die Kausalität konnte jedoch nicht endgültig nachgewiesen werden.) Dort angekommen, habe ich auf der Almwiese eine halbstündige Pause eingelegt und den Ausblick auf die Hütte, den Rappensee und den bevorstehenden Anstieg in Richtung Hohes Licht genossen. Wobei, ehrlich gesagt, der Ausblick auf den bevorstehenden steilen Hang nicht wirklich Genuss in Aussicht stellte. Dann musste ich zwangsläufig weiter, mit dem Bike auf den Schultern.

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Gegen 11:00 Uhr habe ich endlich, nach 5 Stunden Aufstieg, die Große Steinscharte durchschritten. Wie so oft auf solchen Alpencross-Touren habe ich mich unterwegs gefragt, warum ich mir das eigentlich jedes Jahr antue. Als ich oben angekommen war, wurde mir schlagartig wieder klar, weshalb. Die extreme Anstrengung wurde belohnt durch einen gigantischen Blick auf den mit Geröll gefüllten Kessel, der hinter der Steinscharte lag. Direkt vor mir reckte sich der Gipfel vom Hohen Licht in den Himmel. Beim Anblick dieser schroffen Felsgiganten kann man nicht anders, als stehenbleiben und staunen. Hier, inmitten der Stille einer eindrucksvollen Gebirgslandschaft, wollte ich eine halbe Stunde pausieren, bevor ich mich an die Abfahrt durch das Hochalptal wagte.

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Die Ruhe, die herrliche Bergluft und das beeindruckende Panorama sind für einen Stadtmenschen wie mich immer wieder ein unvergessliches Erlebnis. Bald entdeckte ich zahlreiche Murmeltiere, die sich bei meiner Ankunft in ihren Löchern versteckt hatten und sich nun langsam wieder herauswagten. Belustigt beobachtete ich diese Pelztierchen, die bei Ankunft eines Wanderers ihre typischen Warnpfiffe ausstießen und schnell wieder in ihren Löchern verschwanden. Wanderer kamen hier immer mal wieder vorbei, die meisten von ihnen hatten das Hohe Licht zum Ziel. Der Anblick eines Mountainbikers war für die Bergsteiger recht überraschend, was aus den erstaunten und respektzollenden Grüßen und Bemerkungen hervorging. Unter ihnen war auch ein Jogger in abenteuerlich bunter Kleidung, dessen Alter ich schwer einzuschätzen vermochte. Seine sonnengebräunte lederartige Haut, seine dünne zähe Figur und die Lachfalten, die sich hinter seiner Gletscherbrille auffächerten, ließen mich auf ungefähr 60 Jahre schließen. Als er nach kurzem Bergsteigergruß auf dem Heilbronner Weg in Richtung Hohes Licht verschwand, fand ich, dass er noch viel mehr Respekt verdiente, als ich.

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Nach einer ausgiebigen Brotzeit habe ich noch einen kräftigen Zug aus dem Wasserschlauch genommen. Dann habe ich die unter mir liegende Geröllpiste genau inspiziert, in der ich den Trail nach Steeg vermutete. Der Sattel wurde tiefer gestellt und ich schwang mich auf mein Bike. Das würde interessant werden!

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Um es kurz zu machen: Der Trail durch das Hochalptal ist für Mountainbiker eine Katastrophe. Man kann das Hochalptal in zwei Hälften teilen, den oberen und den unteren Abschnitt. Im oberen Abschnitt kann man etwa 100 Meter fahren, und von da an muss man das Bike größtenteils hinunterschieben. Der Weg ist hier verblockt, felsig, voller rutschigem Geröll und sehr steil, und selbst mit der besten Fahrtechnik einfach nicht fahrbar. Dieser S4-Trail ist hin und wieder durchsetzt von kurzen 50-Meter-Stücken, wo man seine Freeride-Fähigkeiten auf S3-Niveau testen kann.
In der unteren Hälfte wird der Weg vorerst etwas besser. Hier gibt es zeitweise schwierige Geröll-Trails auf S3-Niveau, bevor sich ein schmaler Weg einigermaßen flowig an der rechten Seite des Talhanges entlangzieht. An der Stelle bin ich an einem besonders schmalen Stück mit dem Hinterrad seitlich abgerutscht und links den Abhang hinuntergekippt. Glücklicherweise war der Pfad gesäumt von Latschenkiefern und ich landete weich, aber mit dem Kopf nach unten. Ich lag wie ein Käfer auf dem Rücken und es hat etwas gedauert, bis ich mich aus der misslichen Lage befreien konnte. Glücklicherweise trugen weder mein Bike noch ich irgendwelche Schäden davon. Bei dem Sturz hatte sich jedoch leider meine Brotzeit aus dem Helmnetz des Rucksackes gelöst (riesiges Ciabatta belegt mit Salami, Käse, Rucola und Chilisauce), dessen Verlust ich erst unten im Tal bemerkte und äußerst bedauerte.

Nach diesem S2-Trailstück geht es leider derart steil und direkt einen mit Wurzeln und Felsen durchsetzten Waldweg hinunter, dass ich wieder zum Schieben gezwungen war. Das hatte auf der Karte zuhause anders ausgesehen! Zu allen Überfluss war dann plötzlich vom Weg nichts mehr zu sehen. Mein GPS-Track führte durch ein immer dichter werdendes Gestrüpp von hohen Gräsern, Farn und Unterholz und endete schließlich rund 15 Meter fast senkrecht über einer unbefahrenen Straße. Das Bike und mich selbst da hinunterzubringen ohne abzustürzen, kostete mich mein komplettes Repertoir an Flüchen und etwa eine Viertelstunde. Dann rollte ich die Straße hinunter bis Steeg, wo ich an einem Brunnen pausierte und die Abwesenheit meines Riesen-Chiabatta-Sandwiches bemerkte. Meine Stimmung kann man eventuell beim genauen Hinsehen von meinem Gesichtsausdruck ablesen.

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Es war inzwischen 15:00 Uhr. Die Überwindung der Großen Steinscharte hatte mich also insgesamt, mit Pausen, 9 Stunden gekostet. Ursprünglich war geplant gewesen, heute noch bis zur Leutkircher Hütte hochzufahren, doch daran war ganz sicher nicht mehr zu denken. Mir dämmerte, dass diese Erkenntnis meinen kompletten Zeitplan für den Alpencross, und damit auch die gewählte Route in Frage stellte. Es zeichnete sich ab, dass die meisten der geplanten Pässe komplette Tagestouren waren, dass ich einige davon würde streichen und auf meine Ausweichrouten zurückgreifen müssen. Verdammt! Ich war entkräftet und frustriert, aber ich beschloss, heute immerhin noch die Straße bis Kaisers hochzufahren. Diese 400 Höhenmeter musste ich mir hart erkämpfen. Als ich endlich Kaisers erreichte, nahm ich mir ein Zimmer mit Ausblick in der nächstbesten Pension. Noch eine Nacht im Freien nahe am Gefrierpunkt würde ich mir nicht antun! Am Abend grübelte ich noch lange Zeit über der bevorstehenden Routenänderung, bevor ich in einen tiefen zehnstündigen Schlaf sank.

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