Alpencross 2012 - Tag 6
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Vezza d'Oglio - Edolo - Cedegolo - Passo di Campo - Pracul
Länge: 62 km
Steigung: 2210 Hm
Ich hatte tatsächlich mal richtig gut geschlafen – was ja keine Selbstverständlichkeit ist, wenn man mit müden Knochen und pochenden Waden ins Bett fällt. Punkt sieben stand ich beim Frühstück, halbwegs wach und voller Erwartung. Leider wurden diese direkt gedämpft: Auch wenn ich die italienische Küche für ihre Pasta, Pizza und dolce Vita liebe – beim Frühstück sind die Italiener schlichtweg talentfrei. Mein Start in den Tag bestand aus aufgeschäumter Milch – ohne Kaffee, weil ich den einfach nicht runterkriege – und zwei Croissants in Plastikfolie eingeschweißt mit undefinierbarer, vermutlich künstlich aromatisierter Füllung. Nun gut, hilft ja nix. Kalorien sind Kalorien. Ich beschloss, mir unterwegs noch etwas Vernünftiges zu besorgen, denn heute sollte der berüchtigte Passo di Campo bezwungen werden.
Bevor ich jedoch überhaupt zum Anstieg kam, galt es, über 25 zähe Kilometer durchs Tal zu kurbeln – mit reichlich Verkehr und so gut wie keinen Radwegen. Doch Fortuna meinte es gut mit mir: Ein schmaler Rad- oder Waldweg schlängelte sich von Vezza d’Oglio bis Incúdine, und ich konnte der Straße entkommen. Danach ging’s leider zurück auf die Bundesstraße. Irgendwo nach Incúdine hätte ich eigentlich wieder auf den Radweg zurücksollten – laut Karte ging der bis Edolo. Den Abzweig habe ich aber souverän übersehen und bin stattdessen die Straße runtergerollt. Immerhin, bergab war’s schnell.

Der Verkehr war eine Katastrophe – Dauerhupen, enge Überholmanöver, LKWs mit Dieselwolken deluxe. Also nix wie runter von der Hauptstraße! Kurz vor Sonico fand ich eine Nebenstraße, die zwar steiler war, aber dafür deutlich weniger Adrenalin durch rücksichtslose Autofahrer bedeutete. In Rino ging’s dann auf einen Wanderweg, den ich auf der Karte entdeckt hatte. Ein schmaler Singletrail, mitten durch dichten Wald, steil, holprig und kaum fahrbar – also: schieben, fluchen, schwitzen. Der Trail zog sich bis Malonno, wo ich wieder auf Asphalt zurückmusste. Die letzten sieben Kilometer bis Cedegolo waren dann wieder Bundesstraßen-Action – Kurven, LKWs, keine Ausweichmöglichkeit. Nervenzehrend! Aber immerhin kam ich unterwegs an einer kleinen Bäckerei vorbei und deckte mich vorsorglich mit zwei Mini-Pizzen ein. Man weiß ja nie, wann der nächste Magenknurrer zuschlägt. Gegen elf Uhr erreichte ich Cedegolo. Raus aus dem Wahnsinnsverkehr, rauf in die Berge – endlich!

Der Aufstieg nach Andrista war steil, aber angenehm ruhig. Der Dorfplatz dort war wie geschaffen für ein zweites Frühstück – also Pizza Nummer eins rein, Füße hoch, kurz durchatmen.

Ab Andrista ging’s weiter bergauf über Fresine nach Valle – Asphalt, wenig befahren, geradezu idyllisch. Zwischen Fresine und Valle begegnete mir ein Mountainbiker aus Immenstadt, ebenfalls solo unterwegs, mit exakt demselben Plan: den Passo di Campo überqueren. Offenbar zwei Seelen, ein Gedanke – oder einfach zwei Bekloppte mit Hang zum Abenteuer. Wir beschlossen spontan, gemeinsam weiterzufahren. Ab Valle verließen wir die Straße und folgten einem Wanderweg, der laut Schild in etwa dreieinhalb Stunden zum Pass führen sollte. Haha. Lustiger Scherz.

Ab hier hieß es: Tragen. Schieben. Keuchen. Der Pfad war antik – mit dicken, unebenen Steinen gepflastert, steil und mit zunehmender Höhe immer mehr zugewuchert. Bike schultern, Flüche ausstoßen, langsam Höhe gewinnen. Bis zum Monte Zucchello ging es größtenteils schön schattig durch den Fichtenwald.

Gegen 16:30 erreichten wir den Lago d’Arno – tief unter uns glitzerte der See wie ein Juwel in einem alpinen Kessel. Ab dort wurde es weniger steil, aber keineswegs leichter. Der Weg war stellenweise kaum noch vorhanden: zugewachsen, verwittert, vom Steinschlag gezeichnet. Oft mussten wir über Felsbrocken klettern oder uns durch kratziges Gestrüpp schlagen. Aber die Landschaft – Wahnsinn! Wild, ungezähmt, berauschend schön.

Kurz vor dem Pass zwang uns eine tiefe Seitenschlucht zur Improvisation: Ein paar rostige Eisenträger lagen quer über dem Abgrund – wahrscheinlich seit Jahrzehnten unberührt. Balanceakt mit Bike unter dem Arm – nicht unbedingt meine Lieblingsdisziplin, aber wir kamen heil rüber. Für Leute mit Höhenangst ist das definitiv keine Route zur Erholung. Das Wetter war glücklicherweise ideal – leicht bewölkt, nicht zu heiß, trocken. Trotzdem hatte ich gefühlt fünf Liter Schweiß verloren.

Erst nach 19 Uhr standen wir keuchend und fix und fertig oben auf dem Pass – 2300 Meter, über acht Stunden nach dem Start in Cedegolo. Die Sonne sank bereits, aber jetzt ging’s ja nur noch bergab. Dachten wir zumindest.

Nach einer kurzen Pizzapause (die zweite, wir hatten sie uns verdient!) starteten wir den Abstieg. Nur: Fahren? Fehlanzeige. Vielleicht fünf Mini-Abschnitte à 50 Meter, auf denen man sein Glück versuchen konnte – ansonsten nur Schieben, Heben, Stolpern. Und das war echt frustrierend. Nach so einem brutalen Aufstieg hätte man wenigstens einen brauchbaren Trail erwartet. Aber nee – Geröll, Felsen, unfahrbare Passagen. Ich hatte über die Strecke gelesen, aber dass es so mies war, hätte ich nicht gedacht.

Am Lago di Campo (1950 m) war es längst nach 20 Uhr. Unsere stille Hoffnung, ab hier rollen zu können, wurde schnell begraben. Der Pfad runter zum Lago di Bissina war eine Zumutung: steil, rutschig, ausgewaschen – stellenweise mussten wir die Bikes sogar bergauf tragen. Kein Meter fahrbar.

Komplett erschöpft erreichten wir irgendwann die Straße, die über den Stausee ins Tal führte. Es war inzwischen stockdunkel. Zum Glück hatte ich Licht dabei – Vorder- und Rücklicht, die jetzt unverhofft zum Einsatz kamen. Wie zwei Geister rasten wir durch die Nacht, an den dunklen Silhouetten von Lago di Boazzo und den Tunneln vorbei. Nach 21 Uhr kamen wir in Pracul an, wo wir uns in der erstbesten Albergo einquartierten – keine Sekunde zu früh, denn kaum hatten wir das Gepäck abgestellt, brach draußen ein heftiges Gewitter los.
Mit über 13 Stunden war das die längste Etappe, die ich je absolviert hatte – wobei „fahren“ hier eher großzügig formuliert ist. Beim Abendessen gönnte ich mir eine doppelte Portion: Lasagne und Pizza. Danach fiel ich ins Bett – und schlief wie ein Stein im Gebirge.
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