Alpencross 2012 - Tag 3
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Gepatsch-See - Gletscherstraße - Weißseejoch - Melag
Länge: 16 km
Steigung: 1120 Hm
Mitten in der Nacht wurde ich von seltsamen Lauten geweckt, die durch das stille Tal hallten. Eine Art rhythmisches Röhren, gemischt mit einem Bellen – irgendwie tierisch, aber nicht sofort zuzuordnen. Offensichtlich zogen mehrere Tiere durchs Tal, die diese Geräusche von sich gaben. In der Dunkelheit spielt einem der Kopf bekanntlich schnell Streiche, und so huschte mir unwillkürlich der Gedanke an Wölfe oder gar Bären durch den Sinn. Doch mein Verstand funkte dazwischen: Bären klangen anders – wenn sie überhaupt klangen – und waren hier ohnehin nicht heimisch. Wahrscheinlicher war, dass ich Hirsche oder Rehe gehört hatte, die in dieser Gegend zahlreich vorkommen. Mit dieser beruhigenden Erklärung drehte ich mich um und fiel bald wieder in einen tiefen, erholsamen Schlaf.
Regen hatte es in der Nacht keinen gegeben, aber der Morgen begrüßte mich mit beißender Kälte. Auf knapp 1900 Metern hatte ich erstaunlich gut geschlafen, doch jetzt wurde es Zeit, die Sachen zu packen und den nächsten Anstieg in Angriff zu nehmen. Ganz wichtig war, keinerlei Spuren in der Natur zu hinterlassen.
Gegen sechs Uhr tauchte die Gepatschalpe im Morgenlicht auf. Der Weg war wieder fahrbar, allerdings wurde er zu einem Slalomparcours der besonderen Art: Kuhfladen in großzügiger Verteilung zwangen mich zu akrobatischem Ausweichen. Nicht immer erfolgreich – bald klebte mir eine stinkende Mischung aus Kuhdung und Erde zwischen den Stollenprofilen und am Sattelrohr. Nach der Alpe traf ich auf die Gletscherstraße, die um diese Uhrzeit noch völlig verlassen war. Mit ein paar Grashalmen befreite ich mein Bike notdürftig von der duftenden Verzierung, bevor ich riskierte, mir das Zeug beim Weiterfahren ins Gesicht zu schleudern.

In stetigem Rhythmus kurbelte ich Kehre um Kehre bergauf. Der Himmel blieb bedeckt, und es sah nicht danach aus, als würde sich das heute ändern. Ich hoffte nur, dass mir der Regen während der Passüberquerung erspart bliebe. Am Weißsee legte ich eine kurze Pause ein – das Hochgebirge präsentierte sich dramatisch und karg. Ich war längst über die Baumgrenze hinaus; lediglich Reste eines grünen Grasteppichs bedeckten die steinige Landschaft. Der Wind nahm weiter zu, und es blieb unangenehm kühl.

Kurz hinter dem Weißsee zweigt – kaum sichtbar – der Pfad zum Weißseejoch ab. Schilder suchte ich vergeblich, nur vereinzelte rot-weiße Markierungen auf Felsen gaben Hinweise. „Wird schon stimmen“, murmelte ich und vertraute meinem Navi. Schieben war ab hier passé – das Rad musste auf die Schultern. Steil, felsig, teils kaum ein Pfad – ich kämpfte mich nach oben. Zunächst hatte ich mich etwas zu weit nach Norden gehalten und stand bald ratlos vor einer verschlossenen Hütte. Ein Blick auf das GPS und ein beherztes Hineinzoomen später war der Fehler erkannt und schnell korrigiert.

An dieser Stelle eine klare Warnung: Wer hier mit dem Mountainbike aufsteigen will, sollte sich das gut überlegen! Der grüne Teppich wich nun völlig dem Fels. Über Geröllfelder und grobe Blöcke schleppte ich Bike und Rucksack nach oben. Zwei Kilometer, die mich an die Grenze brachten. Es war mit Abstand der härteste Abschnitt meines bisherigen Alpencross-Abenteuers. Der Pfad war so steil und der Wind inzwischen so heftig, dass ich mich stellenweise mit den Händen am Fels abstützen musste. Schneefelder querend, mit eisigem Sturm im Gesicht, tastete ich mich weiter. Die Temperaturen kratzten knapp über Null, und trinken musste ich mich regelrecht zwingen – der Körper verliert viel Flüssigkeit, zeigt aber keinen Durst. Tückisch.

Rund zwei Stunden später – körperlich völlig ausgelaugt – stand ich schließlich auf dem Weißseejoch, auch bekannt als Passo di Melago. 3000 Meter hoch. Ich machte mein obligatorisches Gipfelfoto, dann kauerte ich mich in eine windgeschützte Steinmulde. Es war erstaunlich, wie heftig mich dieser vergleichsweise kurze Anstieg über nur 500 Höhenmeter geschlaucht hatte. Klar, das Wetter hatte seinen Teil beigetragen. Nach rund 20 Minuten fühlte ich mich wieder bereit für den Abstieg – und der verlangte volle Konzentration.

Die ersten 50 Meter konnte ich tatsächlich fahren – dann war Schluss mit lustig. Der Pfad stürzte sich steil ins Tal, gespickt mit losem Geröll und kantigem Fels. Selbst technisch versierte Biker kommen hier nicht um’s Schieben herum. Ich passierte riesige Schneefelder, stieg über Felsplatten, manchmal so steil, dass sogar das Gehen heikel wurde. Hin und wieder gab’s ein kurzes Enduro-Intermezzo über ein paar Meter – doch das war die Ausnahme.

Die erste Hälfte des Abstiegs war ein brutaler Härtetest – selbst mit Top-Fahrtechnik sind maximal 20 % fahrbar. Erst auf der zweiten Hälfte flacht das Gelände etwas ab.

Ein Almweg vom Samerboden nach Melag erlaubte es nun öfter, in den Sattel zu steigen. Doch selbst hier unterbrachen Bäche, Geröllstufen und grobe Steine immer wieder das Fahrvergnügen. Ein paar schottische Hochlandrinder beobachteten mich aus sicherer Distanz – vielleicht amüsiert über mein Ringen mit dem Gelände und meinem zweirädrigen Untersatz.

An einer kleinen Doppelstufe stoppte mein Vorderrad abrupt, und ich machte einen sauberen Abgang über den Lenker. Sah vermutlich spektakulär aus – war aber harmlos. Kein Schaden am Bike, nur eine ordentliche Schramme am Knie, die ich gleich vor Ort versorgte: Ausspülen, trockenlegen, Sprühpflaster drauf, weiter geht’s. Kurz darauf öffnete sich der Blick ins Langtauferer Tal – und auf Melag. Es war erst 14 Uhr, aber für heute hatte ich genug. Wie geplant würde ich die Etappe hier beenden.

Für den nächsten Tag hatte ich ursprünglich die Querung der Planeiler Scharte geplant. Doch das Wetter blieb instabil, und ich ahnte, dass dieser Übergang noch kräftezehrender sein würde als das Weißseejoch. Also ließ ich Vernunft walten, verzichtete auf die Scharte und plante eine Umfahrung. Ironischerweise hatte ich bereits einmal versucht, diesen Pass zu nehmen – und ebenfalls abgebrochen. Déjà-vu! Ich nahm mir ein kleines Hotel in Melag, ignorierte großzügig sämtliche Wellness-Regeln und genoss am Abend ein ausuferndes 4-Gänge-Menü. Sogar ein paar meiner durchgeschwitzten Bike-Klamotten konnte ich waschen – und dank meiner Haartrockner-Bastelei auch einigermaßen trocken bekommen.
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