Alpencross 2012 - Tag 4
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Melag - Reschensee - Laatsch - Müstair - Val Mora
Länge: 61 km
Steigung: 1510 m
Ich erwachte ausgeschlafen und erstaunlich fit – erstaunlich deshalb, weil das üppige Abendmahl des Vortags eigentlich eher für ein Verdauungskoma als für erholsamen Schlaf prädestiniert war. Trotzdem stand ich früh auf und marschierte als einer der ersten ans Frühstücksbuffet. Ich tat mein Möglichstes, um meine Kalorienreserven aufzufüllen – oder, um es ehrlich zu sagen: Ich aß wie drei ausgehungerte Tourenfahrer. Danach packte ich mein Zeug, checkte aus und bezahlte den 15-Euro-Aufpreis für das Einzelzimmer mit stoischer Gelassenheit. Ich hatte ihn – rein kalorisch betrachtet – längst amortisiert.
Heute sollte ich nach Umfahrung der Planeiler Scharte im Vinschgau wieder auf meine ursprüngliche Route stoßen und dann, wie ursprünglich geplant, in die Schweiz rollen.
Die Abfahrt durchs Langtauferer Tal begann beschwingt – eine herrlich flüssige Forststraßenstrecke durch stille Wälder, parallel zur kaum befahrenen Landstraße. Die Sonne stand schon früh am Himmel und tauchte alles in ein weiches Licht. In Kapron endete der Forstweg und ich rollte die letzten Kilometer auf Asphalt bis Graun am Reschensee hinunter – flott, dank Gefälle, und mit dem nötigen Schwung, um meine vom Frühstück noch trägen Beine auf Betriebstemperatur zu bringen.

Ab Graun folgte ich dem gut ausgebauten Radweg entlang des Reschensees. Der Blick auf den Ortler war spektakulär, der See lag ruhig da, und die Kulisse hätte jedem Werbeprospekt für “sanften Aktivurlaub” Ehre gemacht. Nach dem Reschensee nahm ich Kurs auf den Haidersee, dessen westliches Ufer ich ebenfalls entlangradelte – ein Wiedersehen, denn diese Passage war mir noch vom letzten Jahr bekannt. In Burgeis und Laatsch rollte ich entspannt weiter, bis ich in Laatsch schließlich rechts auf eine Landstraße abbog.

Dort wird offenbar gerade ein Radweg gebaut – immerhin deuten die Baustellen darauf hin. Vielleicht ist dieses Straßenstück im nächsten Jahr bereits Geschichte. Nach zwei Kilometern ging’s dann ohnehin rechts weg auf eine breite Forststraße entlang des Rambachs, der sich ab der Schweizer Grenze dann Radond nennt – ganz in schweizerischer Präzision. Die Steigung war sanft und gleichmäßig, das Gelände angenehm fahrbar. Nur die Bremsen – nicht die mechanischen, sondern die blutrünstigen, summenden – machten mir das Leben schwer. Pause oder Fotos? Undenkbar. Die Biester waren schlimmer als jeder Gegenwind.

Hinter Taufers landete ich wieder auf Asphalt – direkt vor dem Grenzübergang. Die Schweiz empfing mich mit einer stark befahrenen Landstraße – ein 5-Kilometer-Stück bis Santa Maria, das meine Nerven kurzzeitig strapazierte. Doch sobald ich die Forststraße ins Val Vau erreichte, fiel alle Anspannung ab.

Der Anstieg durchs Val Vau war eine Wohltat. Die Straße in tadellosem Zustand, fahrbar bis zum letzten Meter. Irgendwann tauchte am Wegrand eine Bushaltestelle auf – ja, mitten im Gebirge. Schweiz eben. Hier fährt das Postauto scheinbar bis auf die Steinböcke hinauf.

Je höher ich kam, desto idyllischer wurde es. Der Bach beruhigte sich, plätscherte glasklar durch Almwiesen, eingerahmt von einem Bergpanorama, das wie gemalt wirkte. Zeit für eine Rast. Die stechwütigen Bremsen hatten offenbar an der Grenze bleiben müssen – vielleicht hatten sie keine Ausweisdokumente dabei. Ich war allein. Und es war wunderschön.

Schließlich erreichte ich Döss Radond, den höchsten Punkt des Tages. Ich ließ mich ins Gras fallen und sog die Szenerie in mich auf. Sonne, Almen, Stille. Ein perfekter Moment.

Danach begann die Abfahrt ins Val Mora – ein Traumtal für Mountainbiker. Der Weg schlängelte sich sanft talwärts, eingerahmt von 3000ern, und war streckenweise von anderen Bikern bevölkert – meist geführte Gruppen mit Tagesrucksack und dem Komfort eines Shuttle-Services im Hintergrund. Ich hingegen schleppte mein Gepäck selbst.
Kurz vor der Alp Mora bog ich links ab auf einen schmalen Trail, der sich durch niedrige Kiefernwäldchen schlängelte. Der Gebirgsbach grub sich mehr und mehr in die Landschaft ein – ein Paradies für Trail-Fans. Fast hätte ich dabei eine Kreuzotter überfahren. Die ließ das natürlich nicht unkommentiert und zischte mich in einer Mischung aus Empörung und Drohung an. Offenbar war ich ihr etwas zu nah gekommen – zu nah für ihren Geschmack. Kreuzottern sind selten, geschützt und giftig – aber für mich war es vor allem ein faszinierendes Erlebnis. Wann bekommt man schon eine Wildbegegnung dieser Art?

Nach einer kleinen Holzbrücke zog sich der Weg weiter auf der linken Hangseite dahin. Einige kurze Gegenanstiege sorgten dafür, dass ich nicht vergaß, dass es sich um eine sportliche Unternehmung handelte. Viel war fahrbar, aber gelegentlich musste ich doch schieben – vor allem an den ausgesetzten Stellen, an denen ein Fehltritt 30 Meter Geröllhang bedeutete.

Ich genoss jede Minute – die Nachmittagssonne lag golden auf dem Tal, die Luft war kühl und klar. Am Passo Val Mora endete der Tag. Ich fand einen hübschen Platz im Kiefernwald, richtete mein Biwak ein und war zufrieden. Ein langer Tag, voller Eindrücke, anstrengend, aber wunderschön. So soll es sein.
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