Alpencross zu Fuß 2014 - Tag 2
[Etappe 1] [Etappe 2] [Etappe 3] [Etappe 4] [Etappe 5]Etappe 2
Kemptner Hütte - Mädelejoch - Holzgau - Sulzltal - Simmshütte
Länge: 15 km
Steigung: 1100 Hm
Dass die Nacht in einem 40-Mann-Matratzenlager nicht gerade Wellness-Charakter hatte, dürfte niemanden ernsthaft überraschen. Eine geschätzte Schnarchquote von zehn Prozent – sprich: vier menschliche Motorsägen – und ausgerechnet einer der schlimmsten Vertreter dieser Spezies in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem Kopfkissen. Der akustische Höhepunkt war ein röchelnder Gurgelkanon, der klang, als würde jemand gleichzeitig ertrinken und ein Didgeridoo spielen. Entsprechend war ich beim ersten Licht der Morgendämmerung bereits startklar, würgte ein enttäuschendes Müsli runter (den Rest des kulinarischen Angebots ließ ich aus Selbstschutzgründen links liegen) und stand als Erster auf dem Trail. Immer wieder frage ich mich, warum so viele Wanderfreunde sich diesen Hütten-Horror freiwillig antun.
Dichter Nebel hüllte die Welt in Grau, und meine Sichtweite lag bei gemütlichen 100 Metern, als ich unterernährt und mit klammen Klamotten die Hütte verließ und mich auf dem Weg zum nahe gelegenen Mädelejoch machte.

Rund 130 m höher überquerte ich das Mädelejoch auf knapp 2.000 Metern Höhe – theoretisch ein Panoramapunkt, praktisch ein feuchtes Nichts. Bei solchen Bedingungen war es ohnehin egal, ob man nun über den Jubiläumsweg, das Matterhorn oder den Hinterhof von Tante Erna lief – sehen konnte man eh nix. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen, und meine Wanderkleidung konnte deshalb nicht noch nasser werden, als sie schon war.

Zu früh gefreut: Beim Abstieg durch die Rossgumpe ins Lechtal setzte wieder kräftiger Regen ein. Die sogenannte „Regenjacke“ schützte mich immerhin leidlich vor dem Wind und bewahrte mich so vor dem Frösteltod.

Immerhin bekam ich als Entschädigung gleich mehrfach Besuch von einem der wenigen Lebewesen, das dieses Wetter zu lieben scheint: dem Alpensalamander. Tiefschwarz, glänzend und gemütlich trottete er über den Weg – und wurde von mir jedes Mal wie ein seltener Diamant begrüßt. Kein Wunder, steht ja auch unter Artenschutz.

Kurz vor neun erreichte ich Holzgau – und siehe da: Die Wolken rissen auf, erste Sonnenstrahlen tasteten sich zaghaft ins Tal. Ich nutzte das meteorologische Wunder für eine halbstündige Trocknungspause: Jacke über die Bank, Hemd in die Sonne, Gesicht Richtung Hoffnung. Danach ging’s weiter der Lech entlang, bis ich an der Brücke ins Sulzlbachtal abbog.

Während die Wanderautobahn an der Lechtalklause über breite Forstwege und durch Felstunnel nach oben führt, entschied ich mich für die Variante mit Abenteuer: den alten Tobelweg. Ein Pfad, der so lange nicht mehr gewartet wurde, dass er sich eigentlich schon offiziell als Lost Place qualifiziert. Zunächst war von Weg keine Spur. Ich kletterte über Felsblöcke, hangelte mich am Bach entlang, suchte mehr, als ich ging. Erst nach einer Weile konnte man rechts am Steilhang eine vage Spur erkennen, die sich den Hang hinaufwand. Geröll, Rutschungen und Vegetation hatten den Pfad teilweise ausgelöscht, und ohne GPS hätte ich spätestens hier die Richtung gewechselt – oder ein Biwak eingeplant.

Ich tastete mich über steile Schutthänge und blockige Felsrippen nach oben, an manchen Stellen waren beide Hände gefragt – und genau das machte es so reizvoll. Der Pfad war abenteuerlich, anstrengend, und für „Nicht-Übungstiere“ sicherlich eine Nummer zu groß. Auf etwa 1.300 m entdeckte ich schließlich auf der gegenüberliegenden Talseite eine schwache Spur, die in den Hang hineinführte – das musste die Fortsetzung sein.

Und tatsächlich: Ein verwachsener, steiler Pfad, stellenweise ausgesetzt, schlängelte sich durch den Bergwald nach oben und mündete schließlich auf den offiziellen Fahrweg. Ich war durchgeschwitzt, zufrieden und gönnte mir eine kleine Pause mit Blick zur Wetterspitze.
Gemütlich marschierte ich weiter zur Sulzlalm. Die Straße dorthin ist breit, die Alm entsprechend gut besucht. Ich gönnte mir einen Apfelstrudel – optisch irgendwo zwischen Kuhfladen und Apokalypse, geschmacklich aber erstaunlich gut.

Danach wurde es einsamer: Ein zweieinhalb km langer Karrenweg zog sich durch das Sulzltal den Berg hinauf, die letzten Wanderer blieben zurück.

Knapp unterhalb der Materialseilbahn angekommen, ging es steiler und steiniger weiter. 250 Höhenmeter galt es noch zu überwinden. Wenig später schraubte ich mich in 25 engen Kehren die letzten 150 Höhenmeter zur Frederic-Simms-Hütte hinauf. Die letzte Kurve wird dort nicht umsonst „Gott-sei-Dank-Kurve“ genannt – sie markiert das ersehnte Ende der Tortur.

Die Hütte liegt auf rund 2.000 m direkt unterhalb der Wetterspitze. Es regnete erneut – was sonst? – aber diesmal hatte ich Glück: Als einziger offizieller Gast bekam ich das Matratzenlager ganz für mich allein. Keine Schnarcher, keine Röcheler, keine nächtlichen Zahnschleifer. Einige Leute waren dennoch anwesend, Verwandte des Hüttenwirts, die ein kleines Fest feierten. Sie schliefen in ihren Zimmern, ich profitierte von angenehmer Gesellschaft zum Abendessen – eine perfekte Mischung aus Ruhe und Geselligkeit.

In der Hütte lag ein Ordner mit Tourenbeschreibungen – und siehe da: Auch mein Tobelweg war erwähnt, inklusive dem dezenten Hinweis „Nur für Geübte“. In den Alpen sollte man solche Formulierungen grundsätzlich wörtlich nehmen.

Abends stand dann das Finale der Fußball-WM 2014 an: Deutschland gegen Argentinien. Eigentlich hatte ich mich schon damit abgefunden, das Spiel zu verpassen, doch ein Gast hatte ein Notebook dabei, und so sahen wir das packende Match per Livestream. 1:0 in der Verlängerung, Mario Götze schoss Deutschland zum Titel. Nach Mitternacht kroch ich zufrieden auf meine Matratze – und schlief endlich mal ohne orchestrale Schnarchbegleitung den Schlaf der Gerechten.
[Etappe 1] [Etappe 2] [Etappe 3] [Etappe 4] [Etappe 5]