Radfahren in München

München bezeichnet sich als „Radlhauptstadt“ Deutschlands! Diese Aussage, die eine große Portion Ironie oder Zynismus vermuten lässt, war jedoch vom Kreisverwaltungsreferat durchaus ernst gemeint. Das so genannte „Klima-Bündnis“ ehrte München 2010 sogar mit einer Gold-Urkunde dafür, dass sie die „fahrradaktivste Stadt mit den meisten Radkilometern“ ist. Was sagt eine solche Ehrung eigentlich aus? Dass die Münchner Radler einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten, indem sie freiwillig als wandelnde Feinstaubfilter über ihre Lungen den PKW-verursachten Dreck aus der Luft filtern? Oder dass die Münchner Radfahrer bedauernswerte Masochisten sind und hartnäckig der Autolobby-Stadt trotzen, bis ihre Lungen abgaszerfressen oder sie an der nächstbesten Kreuzung von einem Abbieger überrollt worden sind?

Immerhin wurde 2009 von Stadtrat ein „Grundsatzbeschluss Radverkehr“ gefasst, der bereits heute zahlreiche überwältigende „Verbesserungen“ für Radler vorweisen kann: Zunächst wurde jede Menge Personal eingestellt. Wieder ein paar potentielle Radlrambos mehr, die weg von der Straße sind! Dann wurden auf einer Handvoll Straßen Linien auf den Asphalt gepinselt. Offiziell sind dies „Radwege“, in Wirklichkeit ein willkommener Parkstreifen für Taxis und Lieferfahrzeuge. Und schließlich hat man etwas für die Orientierung der Radler getan, indem irgendwo Wegweiser aufgestellt wurden. Ein wahrlich glorreicher Dienst an Radfahrern und Umwelt!

Es gab mal vor ein eineinhalb Jahren von der Süddeutschen eine Aktion „Münchens Problemstraßen„, bei der man in einer Karte die Gefahrenstellen für Radfahrer eintragen konnte. Das Ergebnis war äußerst interessant, es wurden hunderte kritische Stellen identifiziert. Doch verändert hat die Aktion so gut wie nichts, denn die Hotspots sind nach wie vor Todesfallen für Zweiradfahrer. In wieweit die Orientierungsschilder dazu beitragen konnten, die Gefahrenstellen zu beseitigen, kann sich jeder selbst denken.

Gefahrenzonen für Radfahrer

Gefahrenzonen für Radfahrer

Da ich täglich ca. 35 km im Münchner Stadtgebiet auf dem Fahrrad zurücklege, um meiner Arbeit und anderen Beschäftigungen nachzugehen, komme ich im Jahr auf mindestens 7500 km Fahrradleistung im Stadtverkehr. Bekanntlich ist München zusammen mit Stuttgart die Stadt mit der höchsten Schadstoffbelastung Deutschlands, und ich werde wahrscheinlich früher an Lungenkrebs krepieren, als der schlimmste Kettenraucher. Weil meine Lebenserwartung aber sowieso wegen der lebensbedrohenden Situation auf Münchens Straßen viel zu niedrig ist, hat der Krebs bei mir jedoch keine richtige Chance.

So bleibt mir also nichts anderes übrig, als weiterhin jeden Tag den Widrigkeiten zu trotzen, möglichst früh aufzustehen und noch vor Ausbruch des Berufsverkehrswahnsinns durch ein über viele Jahre hinweg ausgetüfteltes Netz an abgelegenen Nebenstraßen und Wegen den Kontakt zum Automobil zu meiden, wo es nur geht. Dafür nehme ich auch gerne einen Umweg von mehreren Kilometern inkauf. Meine tägliche Herausforderung ist eher die Heimfahrt am Nachmittag.

Typischer "Radweg" in München

Typischer „Radweg“ in München

Die Gefahrenzone am Odeonsplatz ist dabei die erste Hürde. Hier treffen auf engstem Raum hektische Autofahrer, rücksichtslose Taxifahrer, doppelstöckige Sightseeingbusse, kuriose Fahrradrikschas, albern aussehende Segway-Kolonnen, Bettler und Straßenmusikanten, eilige Fußgänger und fast ebenso viele Radfahrer aufeinander. Schon hier greift sofort eine der Maßnahmen der Stadt München zur Verbesserung des Radverkehrs: Man hat auf der ohnehin schon engen Brienner Straße einen schmalen Streifen mit Fahrradsymbol gepinselt, um den Radlern zumindest auf den letzten 50 Metern bis zur Ampel das Gefühl zu geben, sie könnten an den stinkenden Abgaswolken vorbeiziehen. Theoretisch. Denn in der Praxis ist der Streifen kaum mehr zu sehen, und die Radler müssen ihn sich teilen mit abgesenkten Gullideckeln, Lieferanten-LKWs, illegal parkenden PKWs und übereifrigen Fußgängern, die noch schnell rüber zum Wittelsbacherplatz springen wollen. Danach gilt es, sich durch kreuzende Radfahrer und Fußgänger zu schlängeln, ohne dabei ein am Boden kauerndes Mitglied der Bettelmafia oder einen ins Smartphone starrenden geistig weggetretenen Jugendlichen zu überfahren, bis man endlich am Hofgarten wieder ein kurzes Gefühl der Freiheit verspürt. Ein sehr kurzes.

Mit ein paar navigatorischen Tricks schaffe ich es, die Fahrt auf der lebensgefährlichen Maximilianstraße so kurz wie möglich zu halten. Doch der Kreuzung an der Steinsdorfstraße kann man nicht entrinnen. Hier hatte ein verkehrsplanerischer Vollpfosten die glorreiche Idee, den Radweg gleich mehrfach zur Todeszone zu machen. Der schmale Radweg wird nämlich häufig von Fußgängern blockiert, die ihn nicht als solchen erkennen. Ein Ausweichen gibt es nicht, denn links rasen die Autos, rechts ist eine Mauer. Hat man es schließlich bis zur Kreuzung geschafft, wird man in 80% der Fälle von einem abbiegenden Auto/LKW/Bus übersehen und muss sich blitzschnell entscheiden, ob man märtyrergleich sein Leben hingibt, oder einfach nachgibt und sich die Vorfahrt nehmen lässt. Wenn man die absurde Ampelschaltung überwunden hat, kann man kurz die Autofahrer beobachten, die noch schnell bei Rot drüberrasen, bevor man auf die Praterinsel abbiegt. Wenn ich die nach den dort regelmäßig stattfindenden Parties herumliegenden typischen Scherbenhaufen umfahren und den Kabelsteg erreicht habe, sinkt der Stresspegel rapide, denn ab jetzt kann nur noch ich für andere zur Gefahr werden.

Und das lässt sich selbst mit viel Rücksichtnahme und gutem Willen nicht immer vermeiden. Die vielzähligen Engstellen und Hindernisse am Isarradweg, den sich die Fußgänger an einigen Stellen mit den Radlern teilen müssen, sind dabei noch das geringste Problem. Denn auch wenn man teils Schrittgeschwindigkeit fahren muss, hat man dabei immerhin einen schönen Blick auf die Isar und muss keine Autos fürchten. Kritischer wird es, wenn einem im Sommer ein Pulk von 30 Touristen auf wackeligen Leihrädern entgegenkommt, die scheinbar zum ersten Mal in ihrem Leben ein Pedalgefährt bedienen. In solchen Situationen bringt Trail- und Enduro-Erfahrung große Vorteile. Der Trackstand gehört zur Grundausbildung. Weiter südlich entspannt sich die Lage scheinbar. Eine besonders kritische Stelle ist noch die Unterführung bei der Reichenbachbrücke am Ostufer. Hier schlängelt sich der Radweg in unübersichtlicher Weise aus dem Tunnel heraus, und man wird regelmäßig überrascht von entgegenkommenden Fußgängern oder kinderwagenschiebenden Müttern, die den parallel verlaufenden Fußweg aus unerfindlichen Gründen nicht nutzen möchten. Hier gibt es regelmäßig Vollbremsungen und Beinahe-Kollisionen.

Überhaupt scheinen kinderwagenbewaffnete Passanten Radwege zu bevorzugen, um mit besonderer Vorliebe zu zweit oder gar zu dritt nebeneinander ratschend die Fahrradbahn zu blockieren. Für diesen Zweck hat man eine Klingel an den Lenker montiert, deren lauter, bestimmter und nicht zu aufdringlich klingender „Ping“ für Aufmerksamkeit sorgt… sorgen sollte. Denn meist blickt man nach ein paar Klingelversuchen und schlussendlich einer Vollbremsung in vier bis sechs verständnislose bis genervte Augen, während sich niemand auch nur einen Schritt zur Seite bewegt hat. Abgerundet wird die Isarradweg-Erfahrung durch ein Heer von Hundebesitzern und Dogwalkern, die sich entweder von ihren Kötern unkontrolliert über die Hundekot-kontaminierten Isarauen zerren lassen, oder ihre Kotpumpe gleich frei herumwildern lassen. Nicht selten springen einem dabei die kuriosesten Züchtungen unerwartet vor den Reifen, oder laufen seelenruhig auf der einen Seite vom Radweg, während sein Besitzer auf der anderen Seite geht. Mit gespannter Hundeleine.

Wenn man es dann bis zum Flaucher geschafft, die Scherben, Müllberge und Bierleichen der Isar-Griller hinter sich gelassen hat und es zu keiner Schlägerei mit den bierflaschenwerfenden Punkern unter der Thalkirchner Brücke gekommen ist, geht es das Isarhochufer hinauf. Das Fahrradverbotsschild, das sinnigerweise dort angebracht wurde, würde eigentlich dafür sorgen, dass man schiebend doppelt so viel Platz auf dem Weg braucht. Also fährt der vernünftige Radler im Schrittempo hinauf. Nicht selten wird man dabei von übereifrigen Rentnern zusammengeschissen, die sich eine verkehrstechnische Belehrung auf keinen Fall nehmen lassen wollen. Nicht etwa dieser sinnlose Konflikt, sondern die kurze 50-Hm-Steigung sorgt für eine kurzzeitige Erhöhung des Pulsschlages. Ein paar Nebenstraßen später kann ich endlich durch den Perlacher Forst radeln, was zu jeder Jahres-, Tages- und Nachtzeit einen beruhigenden Effekt hat.

Hier im Wald kann man das ganze Jahr über für kurze Zeit winzige Abenteuer erleben. Sei es, weil ein Sturm nachts ein paar riesige Fichten umgelegt hat, über die man klettern muss. Oder weil man nach einer Party bzw. nach der Wiesn nachts um 2 Uhr im schwer alkoholisierten Zustand durch den stockfinsteren Wald eiert und versucht, dem kaum sichtbaren Weg zu folgen. Oder weil heftige Schneefälle den Weg unbegehbar gemacht haben und die Fahrt in ein schweißtreibendes Ganzkörpertraining ausartet. Oder weil man im Sommer spontan beschließt, die Heimfahrt kurzerhand auszudehnen und einen Abstecher bis ins Gleißental zu machen.

Mit etwas Entdeckergeist und Fantasie bei der Routenplanung kann das Fahrradfahren in München zu einem abwechslungsreichen Abenteuer werden, das dabei hilft, den Berufsalltag schnell hinter sich zu lassen. Fatal ist jedoch, wenn man es eilig hat und denkt, den kürzesten Weg nehmen zu müssen, oder wenn man sich auf die Münchner Stadt- und Verkehrsplaner verlässt. Seit Jahren optimiere ich meinen Arbeitsweg dahingehend, Verkehr und andere Gefahren zu vermeiden und möglichst viel im Grünen unterwegs zu sein. Der Umweg lohnt sich in jedem Fall! Gesundheit und Nervenkostüm werden es dir danken!

Der Einfallsreichtum ist wieder einmal dein Freund. Im Stadverkehr genauso wie in den Bergen.

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4 Antworten

  1. Stephan sagt:

    Ein sehr gut geschriebener Bericht ;)
    Konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, obwohl es eigentlich traurig ist. Aber das ist typisch für unsere Politik, es wird in blindem Aktionismus gehandelt, aber leider nicht zu Ende gedacht.

  2. Joachim sagt:

    Am Ortseingang von Düsseldorf steht „Fahrradfreundliche Stadt“. Dies ist purer Zynismus, Schlaglöcher und Wurzelerhebungen im Radweg allenthalben, freie Fahrt für Autos, rote Welle für Radfahrer. Vielleicht ändert sich im Zuge der Tour de France etwas, mal sehen.

  3. Martin sagt:

    Die Verkehrsführung in München (das gilt nicht nur für Radfahrer) ist mit „Unfähigkeit“ alleine nicht zu erklären, da ist mit Sicherheit böser Wille dabei.

  4. Christoph sagt:

    Als neu zugezogener Münchner empfinde ich München als Radfahrer doch um einiges angenehmer als Nürnberg. Womit ich aber nicht sagen möchte das alles top ist. Auch ist mein Weg zur Arbeit bei weitem nicht so abenteuerlich wie deiner und führt mich morgens über die Panzwerwiese nach Hochmuting vorbei am Schloß Lustheim. Zumindest bis dorthin bin ich verschont vom Automief. Falls doch Abenteuerlust aufkommt kann man einen Umweg an der B13 einplanen ;).

    Falls du dich aktiv für mehr Aufmerksamkeit für Radfahrer einsetzten willst. Kann ich dir die CM (critical mass) München empfehlen. Dort zählt jeder Radfahrer vor allem weil die CM in München doch noch recht überschaubar ist. Oder der Ride of Silence dort werden tödlich verunglückte Radfahrer (ghost bikes) geehrt (jedes Jahr im Mai).

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