Alpencross 2010 Tag 4

Etappe 4: Martin-Busch-Hütte – Niederjoch – Castelbell – Tarscher Alm
Länge: 45 km
Steigung: 2320 Hm


Nachts habe ich dank zweier Schnarcher im 30-Mann-Matratzenlager kaum ein Auge zugetan. Wenn sich jeder Atemzug so anhört, als würde ein Walross im Sterben liegen, findet selbst der erschöpfteste Mountainbiker den Weg ins Land der Träume nicht mehr. Da schießen einem schon ethisch ziemlich unkorrekte Hassgedanken durch den Kopf. Notiz für den nächsten Alpencross: Für Hüttenübernachtungen immer Ohropax mitnehmen!

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Zum Frühstück gab es dann Graubrot, Wurst, Käse und Marmelade. Im Vergleich dazu ist die Lebensmittelabteilung im Billig-Discounter der reinste Gourmet-Tempel. Einzig das Müsli war genießbar, aber die Milch stammte wohl eher aus dem Wasserhahn als von einer Kuh. Nach diesem extrem unbefriedigenden Hüttenfrühstück wollte ich nur noch möglichst schnell weg. Am vierten Tag meiner Alpenüberquerung war ich wieder mal einer der ersten auf dem Trail. Heute würde es hinauf zum höchsten Punkt meiner Reise gehen: Zur Similaunhütte auf 3020 m. Während die ersten Extremfrühaufsteher unter den Bergsteigern ihre Steigeisen, Seile und Eispickel zurechtmachten, saß ich schon im Sattel und fuhr los. Die ersten 500 Meter nach der Martin-Busch-Hütte konnten tatsächlich noch gefahren werden, ab dann war Schluss. Nun hieß es Schieben, und wenig später Tragen.

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Das Bike muss rund 4 km weit über steiles, felsiges Gelände getragen werden. Es geht über Geröll, Schutt, Schneefelder und Bäche. Auch wenn der Weg nicht lebensgefährlich ist, sollten sich hier hoch nur Biker wagen, die vernünftiges Schuhwerk haben und entsprechend trittsicher sind. Auf dem schwierigen Weg kann man sich sonst leicht den Fuß verstauchen, abrutschen, verletzen oder gar Schäden am Bike verursachen. Es geht über Schneefelder, und einige Abschnitte sind sehr steil und teils sogar mit Seil gesichert.
Ich habe gehört, dass einige Alpencrosser auf dem letzten Kilometer vom offiziellen Wanderweg abweichen und die Abkürzung über den Gletscher nehmen, weil man dort das Bike einfacher schieben kann. Auch wenn der Gletscher hier oft als ungefährlich bezeichnet wird und heute kein Neuschnee eventuelle Spalten verdeckte, wollte ich dieses Risiko nicht eingehen. Gletschereis befindet sich ständig in Bewegung und kann unberechenbar sein. Nichts für einen Solo-Alpencrosser ohne Sicherung!

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Nach etwa zweieinhalb Stunden hatte ich den Niederjoch-Pass glücklich erreicht und konnte eine verdiente Pause an der Similaunhütte einlegen. Nur selten sieht man hier oben einen Mountainbiker. Seit Tagen war ich der einzige. Der Wirt erzählte, dass vor zwei Wochen am Niederjoch noch 30 cm Neuschnee lagen. Bei schlechtem Wetter sollte man diese Route lieber meiden. Einer der E5-Wanderer hatte eine Ukulele dabei und spielte darauf „Over the Rainbow“ – große Klasse! Leider ist der Film meiner Digicam nichts geworden, und so konnte ich nur einen kleinen Ausschnitt davon festhalten.

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Heute zogen zeitweise dichte weiße Wolken über den Sattel. Nur manchmal rissen die undurchsichtigen Schleier auf und erlaubten einen Blick hinunter in das sonnige Vernagt. Es war mit 10 °C außerdem ziemlich kühl. Eine Zeit lang unterhielt ich mich mit den Wanderern, die auf dem Fernwanderweg unterwegs waren und sich auf den bevorstehenden Aufenthalt im Wellnesshotel in Meran freuten. Kurz beneidete ich die Wandersleute darum… aber nur ganz kurz.

Ich rastete nicht lange, sondern nahm bald mein Bike und machte mich auf den Weg. Ein steiler steiniger Pfad führte durch den Fels. Auf den ersten 500 m ist an Fahren nicht zu denken. Gefährlich ist der Abstieg nicht, aber auf dem oberen Teilstück auch nicht fahrbar. Bald führte der Weg auf ein Geröllfeld, über das er sich in engen Serpentinen hinunterschlängelte. In den letzten Serpentinen des Schuttfeldes kann der geübte Freerider bereits in den Sattel steigen und sein Rad langsam mit viel Geschicklichkeit über Steine und Felsen und um enge Kehren lenken.

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Kaum hat man das Geröllfeld verlassen, öffnet sich das Tal und ein S3-Singletrail führt hinab bis Vernagt. Für Biker, die anspruchsvolles technisches Geschicklichkeitsfahren bei mäßiger Geschwindigkeit lieben, dürfte dies einer der besten Trails der Alpen sein. Der Weg ist stufenartig verblockt und besteht meist aus festen Felsstufen und -hindernissen, die überwunden werden müssen. Selbst mit einem guten Fully ist die Abfahrt ziemlich anstrengend, aber auch unglaublich kurzweilig. Es fiel mir schwer, mich zum Anhalten zu überwinden, um ab und zu ein Foto oder einen Kurzfilm zu machen. Nach einer längeren Trailabfahrt rückte der smaragdgrüne Vernagter Stausee ins Blickfeld. Hier ging der Trail langsam in einen mehr oder weniger flowigen S2-Trail über, der sich fast bis zum See zieht. Die letzten 800 Meter lässt man über ein Asphaltsträßchen abrollen.

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Ich überquerte die Staumauer des künstlichen Sees und folgte links einem schmalen Fußpfad, der durchs Schnalstal talwärts führt. Die Bundesstraße sollte man unbedingt vermeiden, auch wenn sie bei permanentem Gefälle bequem bis hinunter nach Staben führt. Dort herrscht nämlich einiger Verkehr, und die Straße führt immer wieder durch Tunnel – für Radfahrer ein gefährliches Vergnügen. Die Trailvariante bis Juval ist dagegen spaßig und gut zu fahren, hat größtenteils S1-Singletrail-Qualität, aber auch die eine oder andere kürzere Steigung.

Bei Kastelbell mündet der Weg endgültig ins Tal. Dort habe ich die Etsch überquert und bei sengender Hitze ein ständig ansteigendes Sträßchen durch die langweiligen Apfelplantagen bis nach Tarsch genommen. In der Pizzeria Zum Riesen in Tarsch bin ich nicht nur in Kontakt mit einer riesigen Pizza Cappriciosa gekommen, sondern auch mit zwei anderen Alpencrossern, die sich ebenfalls die Tarscher Alm als Ziel gesetzt hatten.

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Von Tarsch habe ich das steil ansteigende Sträßchen bis zur Talstation des Sesselliftes genommen. Und ehrlich gesagt, wäre der Lift in Betrieb gewesen, hätte ich vermutlich den Warmduscher in mir siegen lassen und mir die Quälerei nach oben gespart. Die Frage stellte sich jedoch nicht. Offenbar hat das Skigebiet Tarscher Alm jahrelang rote Zahlen gemacht und wurde 2008 an einen spanischen Investor verkauft. Seitdem steht der Lift.

Folgt man nun also dem endlosen Schotterweg durch den Wald aufwärts, wird die Geduld auf eine harte Probe gestellt. Immerhin taucht etwa 1,5 km nach der Sessellift-Talstation eine kleine Lichtung am Wegesrand auf, wo man am Brunnen seinen Durst löschen und sich an ein paar Bänken und Tischen ausruhen kann. Nach knapp 3 Stunden Fahrerei und größtenteils Schieberei erreichte ich endlich, diesen langweiligen Schotterweg insgeheim verfluchend, die Tarscher Alm. Nach der Niederjoch-Schinderei des heutigen Morgens war ich nicht mehr in der Lage weiterzureisen, und so würde ich die Nacht im Matratzenlager der Alm verbringen. Zum Abendessen gab es eine Riesenpfanne Hüttenmakkaroni. „Hier ist noch niemand hungrig aufgestanden“, bemerkte die Wirtin treffend. Sie hatte Recht.

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